Verantwortung abgeben - das klingt wie ein schöner Traum. Besonders, wenn man mitten in der "Rushhour" des Lebens steht.
Und gar nicht weiß wohin mit der vielen Verantwortung
- für Familie und Partnerschaft
- im Beruf und als Führungskraft
- für finanzielle Stabilität und Einkommen
- für die eigene Gesundheit und Psyche.
Jede erfahrene Führungskraft weiß: Verantwortung abgeben ist der Schlüssel zu mehr Eigenverantwortung, Kreativität, Motivation und Begeisterung. Theoretisch. Praktisch scheitern wir alle daran - egal ob Mama/Papa, Unternehmer*in, einfacher Mitarbeiter*in, Vorstand, Abteilungsleiter*in oder Teamleiter*in. Gründe dafür gibt es viele - aber was kann man tun?
Infografik - das wichtigste in Kürze
Ursachen (Warum es uns so schwer fällt, Verantwortung abzugeben)
Eigentlich ist es doch verhext. Wir träumen davon, weniger Verantwortung zu haben (zumindest so wenig, dass wir auch mal wieder ruhig durchatmen können) - aber gleichzeitig fällt es uns schwer, sie tatsächlich abzugeben. Was sind die wichtigsten Ursachen für dieses Paradoxon?
- Angst, die Kontrolle zu verlieren: Wir alle sorgen gerne dafür, dass Dinge klappen. Besonders, wenn es sich um wichtige Angelegenheiten handelt. Natürlich möchte ich nicht, dass mein Kind falsch ernährt wird. Oder eine Kundin verärgert wird. Oder ein Projekt gegen die Wand fährt, weil es von unerfahrenen Personen geplant wurde. Das Problem dabei: Wer sich und sein Umfeld daran gewöhnt, immer "alles im Griff" zu haben - der kommt aus dieser starren Haltung schwer wieder heraus. Und alle anderen in Team oder Familie gewöhnen sich auch gerne daran, wenig Verantwortung tragen zu müssen.
- Angst, nicht mehr wichtig zu sein: Wer viel Verantwortung trägt, der ist wichtig. Das reden wir uns zumindest ein. Und da wir gerne wichtig sind - weil wir unseren Job nicht verlieren wollen, weil wir geliebt werden wollen oder weil wir einfach das Gefühl haben, wir möchten wichtig sein. Deshalb klammern wir uns bisweilen an Verantwortung, die wir eigentlich abgeben sollten. Denn wir haben nicht gelernt zu vertrauen, dass wir auch dann wichtig sind, wenn wir eine andere Rolle im System einnehmen.
- Schlechtes Gewissen und Verpflichtungsgefühl: Viele Menschen kennen diese innere Stimme: "Du musst erst etwas erreicht und geschafft haben, bevor Du Dir etwas gönnen darfst". Und diese Stimme macht uns ein schlechtes Gewissen, wenn wir versuchen, Verantwortung abzugeben. Weil wir ja erst beweisen müssen, dass wir Erfolg haben. Weil wir uns irgendwie verdienen müssen, mal Pause zu machen oder das Leben zu genießen. Oder weil wir dankbar sein müssen gegenüber den Menschen, denen wir Verantwortung abnehmen.
- Überforderung mit dem Prozess der Verantwortungsübergabe: Neben den vielen tieferen Ursachen gibt es auch eine ganz pragmatische: Viele Menschen wissen einfach nicht so genau, wie man das macht mit der Verantwortungsübergabe. Sie zögern sie deshalb lange hinaus - in der hoffnungsvollen Erwartung, irgendwann einen klaren Schritt machen zu können und sie von jetzt auf gleich übertragen zu können. Das führt aber dazu, dass die anderen Personen im System gar nicht lernen, in die Verantwortung hineinzuwachsen - und deshalb nie wirklich "bereit" sind, den Ball zu übernehmen.
Symptome (Woran wir merken, dass wir nicht genügend Verantwortung abgeben)
Aber woran merkst Du, dass Du Verantwortung abgeben solltest? Was sind die Symptome, dass es an der Zeit ist?
- Ungleiche Verteilung von Arbeit: Du sitzt regelmäßig bis 23 Uhr im Büro, während Dein Team schon um 16 Uhr auf Tiktok rumhängt? Du weißt gar nicht, wann Du auch noch die Spülmaschine einräumen sollst, während sich Dein Ehepartner auf dem Sofa vergnügt? Wenn Du nicht da bist wissen die anderen nicht, was sie tun sollen? All das sind Anzeichen für eine ungleiche Verteilung von Arbeitslast in einem Team oder einer Familie. Natürlich kann es schon mal vorkommen, dass Arbeitsbelastung unterschiedlich ist - aber im Durchschnitt sollten alle Beteiligten einen fairen Anteil an der Gesamtbelastung eines Teams tragen. Wenn das nicht der Fall ist - dann ist es Zeit zu handeln.
- Alle arbeiten zu viel: Es kann aber auch ein Symptom sein, wenn alle Beteiligten zu viel arbeiten. Teams und Organisationen, in denen (gefühlt oder tatsächlich) alle ständig am Limit arbeiten haben häufig nicht nur ein Problem mit zu viel Arbeit insgesamt (das kann natürlich auch dahinter stecken), sondern mit unguten Rollenverteilungen. Gut wäre, Arbeit so zu organisieren, dass alle sich gegenseitig vertreten können, die Zahnräder des Systems ineinander greifen und jeder weiß, was er zu tun hat. Nur so kann man auch gut priorisieren und die Arbeitslast im Gesamtsystem gut regulieren. In Teams oder Familien, in denen zentrale Figuren (z.B. die Führungskraft oder die Eltern) nicht gut sind im Delegieren von Verantwortung kann es dagegen vorkommen, dass sich alle blind in ihre Aufgaben stürzen und irgendwie versuchen, das System am Laufen zu halten - aber ein Mangel an Koordination, Kommunikation und Priorisierung die Gesamtlast des Systems unnötig hoch hält. In diesem Fall ist meist eine Ursache, dass die Führungskraft zu wenig Verantwortung abgibt (nämlich Verantwortung für operative Tätigkeiten, Einschätzung von Situationen etc.) - und in der Folge keine Zeit hat, die wirklich wichtige Verantwortung zu übernehmen, dem Team bei der Koordination, Kommunikation und Priorisierung zu helfen.
- Druck- und Stressgefühl: Ganz subjektiv merkt man zu viel Verantwortung an einem permanenten Gefühl von Druck und Stress. Die Freude am positiven Stress geht langsam verloren - und ein verkrampftes, freudloses Dauerdruckgefühl baut sich auf. Im Schlimmsten Fall nimmt man dieses Gefühl mit in den Feierabend und in den Schlaf, wo dann nur noch betäubende Mittel helfen, um mal ganz abzuschalten.
- Arbeit an den falschen Themen: Wenn Du Führungsverantwortung hast (egal ob beruflich oder privat), dann frag Dich mal: Wie viel Zeit nimmst Du Dir pro Woche, um an Themen zu arbeiten, die spezifisch zu Deiner Rolle gehören? Also Themen wie Strategie, Weiterentwicklung des Geschäfts, Entwicklung von Menschen, Kultur und Reflexion? Wenn das die Themen sind, für die nie Zeit ist, dann gibst Du wahrscheinlich zu wenig Verantwortung ab. Die Arbeit AM, nicht IM Business (oder im privaten Bereich - die Arbeit AN, nicht IN Eurer Familie oder Partnerschaft) ist immens wichtig. Und sie kann im Gegensatz zu operativer Arbeit nicht gut delegiert werden. Wenn Du mehr als 70 Prozent Deiner Zeit operativ verbringst, dann ist wahrscheinlich etwas falsch.
- Flaschenhals-Phänomen: Kennst Du dieses schlechte Gewissen, nicht rechtzeitig auf eine E-Mail geantwortet zu haben? Ab und an ist das normal. Aber wenn der Stapel von offenen Aufträgen, Freigaben und Fragen in Deiner Inbox nur noch nachts abgearbeitet werden kann - dann bist Du zum Flaschenhals geworden in Deinem Team. Als Faustregel gilt: Für mindestens 80 Prozent der Tagesaufgaben sollte es möglich sein, dass Du als Führungskraft gar nicht beteiligt wirst. Oder zumindest nicht beteiligt werden musst. Wenn alle Prozesse über Deinen Schreibtisch führen, dann ist es höchste Zeit, Verantwortung abzugeben.
Taktiken und Strategien (Wie wir lernen können, besser Verantwortung abzugeben)
Aber wie geht das denn jetzt mit dem Verantwortung abgeben? Hier einige einfache Taktiken und Strategien, wie Du besser wirst darin, Verantwortung abzugeben - ohne Stress:
- Akzeptiere, dass es Dir schwer fällt, Verantwortung abzugeben. Vor Dir selbst - und vor Deinen Mitarbeiter*innen der Familienmitgliedern. Verantwortung abgeben, auch im stressigen Alltag, ist eine komplexe Aufgabe. Es ist völlig normal, dass das schwierig ist. Praktisch jede Führungskraft, jede Mutter und jeder Vater braucht Zeit, um über diese Schwelle zu treten - genau genommen mindestens zweimal: Beim Lernen von operativer Führung und beim Schritt in die Führung von Führungskräften. Idealerweise traust Du Dich, dies nicht nur vor Dir selbst zu akzeptieren, sondern offen zuzugeben vor allen Beteiligten. Ein "Mir fällt es manchmal noch schwer, ich bin dabei es zu lernen, hast Du Feedback dazu?" wirkt manchmal Wunder.
- Nimm Dir Zeit für Deinen Lernprozess. Man lernt nicht über Nacht, Verantwortung abzugeben, sondern Schritt für Schritt. Ähnlich wie das Lernen einer komplett neuen Sportart will diese Fähigkeit trainiert werden. Mit allem, was zu anspruchsvollem Training dazu gehört: Trockenübungen, Experimente, Scheitern, Feedback, Wiederholung, Humor... Fang mit einfachen Themen an, überleg Dir, wie Du es machen willst, probiere es aus und lerne aus den Erfahrungen - auch den Schlechten.
- Mach es gemeinsam mit anderen - mit Deinen Vorgesetzten, Deinen Kolleg*innen und Deinem Team/Deiner Familie. Genau genommen lernt nicht eine einzelne Person, Verantwortung abzugeben, sondern ein Team, eine Familie oder eine Organisation lernt, mit Verantwortung neu umzugehen. Dazu gehören immer mindestens zwei - die beide bereit sind, ihren Teil zum Lernprozess beizutragen. In Teilen als Lernende*r, in Teilen als Feedbackgeber*in, in Teilen als Lehrende*r. Denn genauso wie Du lernen musst, zu akzeptieren, dass andere manches anders machen, dass beim Lernen auch mal Fehler passieren, und dass in manchen Fällen 80% auch genügen - genauso müssen die anderen Beteiligten lernen, sich verantwortlich zu fühlen, aus der Perspektive des Gesamtsystems zu denken, Vorschläge zu machen und sie selbst zu evaluieren, den Mut zu haben, Verantwortung auf sich zu nehmen - und zwischendurch auch mal zu scheitern.
- Lerne zu Lehren. Wenn Du erwartest, dass Dein Team genau die selben Entscheidungen trifft wie Du - nur mit erheblich weniger Erfahrung, dann ist Enttäuschung vorprogrammiert. Du hast Dir über die Jahre unglaubliche Mengen an implizitem Wissen angeeignet, nicht nur was zu tun ist, sondern vor allem wie. Lerne nicht nur Verantwortung abgeben, sondern auch dieses Wissen weiterzugeben in einem gestuften Programm - von Vormachen und Erklären über begleitetes Ausprobieren mit Feedback bis hin zu selbst machen mit Eskalationsmöglichkeit. Bewährt haben sich dabei folgende Schritte (gibt's auch hier als Infografik)
- Lernprozess gemeinsam definieren. Alle Beteiligten sollten wissen, was das Ziel des Veränderungsprozesses ist und wie er vonstatten geht. Ein wichtiger Teil davon ist, offen darüber zu sprechen, welche Erwartungen alle den anderen gegenüber haben, was schief gehen darf und was nicht, und wie der Wissenstransfer praktisch funktionieren soll
- Vormachen/beobachten lassen. Lass Dir über die Schulter gucken! Es hilft enorm, wenn diejenigen, die künftig mehr Verantwortung übernehmen sollen, Dir zusehen können, wie Du das machst. Besonders hilfreich ist es dabei, Deine Gedanken laut auszusprechen. Oft hast Du intuitiv auf Basis Deines Wissens besondere Gründe, Vorgehensweise und Beurteilungskriterien, die Du anwendest, ohne darüber explizit zu sprechen. Lass die anderen daran teilhaben!
- Gemeinsam Verantwortung neu definieren. Die meisten Menschen haben wenig Lust, einfach nur das nachzuahmen, was andere ihnen vormachen. Deshalb hilft es, nach einer Beobachtungsphase offen darüber zu sprechen, wie dieser Vorgang künftig gemacht werden könnte. Vielleicht haben die Menschen, an die Du Verantwortung übertragen willst, ganz eigene Ideen, Vorschläge und Perspektiven? Sprecht offen darüber, warum die Dinge so gemacht werden, wie Du sie machst. Worauf Du achtest, welche Alternativen es gibt. Dieses Gespräch führt auf jeden Fall zu mehr Motivation - und wenn Ihr Glück habt auch zu so mancher Innovation. Versuch dabei, nicht an Deinen Grundüberzeugungen zu kleben. Hab Geduld und ein offenes Ohr, wenn Entscheidungen, die Du vor Jahren getroffen hast, in Frage gestellt werden. Vielleicht ist das einfach eine Gelegenheit, Deine Hintergründe zu erklären. Vielleicht aber auch eine Gelegenheit, Dinge neu und besser zu machen - oder es zumindest auszuprobieren
- Machen lassen - aber mit doppeltem Boden. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, im "neuen Modus" zu arbeiten - das heißt, die Verantwortung für einen Prozessschritt wird tatsächlich abgegeben. Aber - noch nicht voll scharf geschaltet. In einer Zwischenphase bekommt der oder die "Neue" die Gelegenheit, das zu tun, was er/sie für richtig hält - aber mit Netz und doppeltem Boden. Denn Du stehst im Hintergrund bereit für Fragen, Kommentare und Austausch. Wichtig ist in dieser Phase: Du nimmst Deine Verantwortung nicht zurück - sondern hilfst nur dem Anderen, sie zu übernehmen. Wenn es zum Beispiel darum geht, Konfliktgespräche mit schwierigen Kund*innen zu führen - dann übernimmst Du nicht wieder die Gesprächsführung. Aber Du bist vorher dabei, um sich vorzubereiten, Du bist vielleicht sogar als stiller "Senior" im Raum, um notfalls zu helfen - und Du bist im Nachhinein präsent, um die Erfahrungen zu reflektieren und daraus zu lernen.
- Verantwortung tatsächlich abgeben. Endlich ist es so weit - die Verantwortung ist abgegeben. Und Du - Du wirfst nicht die Flinte ins Korn, sondern Du überlegst Dir - wie kann ich die neu gewonnene Zeit bestmöglich einsetzen - in meiner neuen Rolle?
- Differenziere zwischen unterschiedlichen Teilverantwortungen. Wer glaubt, gesamte Entscheidungen abgeben zu müssen wird schnell zurückziehen, wenn plötzlich ein Aspekt auftaucht, der doch die eigene Aufmerksamkeit erfordert. Übertrage Verantwortung für Teilschritte, für Lösungsoptionen und deren Bewertung, für kleinere Beträge - und bleibe, vor allem zu Beginn, nah dran am Prozess, gib Sicherheit, Einschätzung und ab und an auch ein Machtwort. Zwischen schwarz und weiß - also "ich mache und entscheide alles" und "ich mache und entscheide nichts" gibt es unendlich viele Graustufen. Erkunde und lerne sie mit allen Beteiligten.
- Ändere Deinen Fokus - weg von perfekten Einzelergebnissen, hin zu einem exzellenten gemeinsamen Prozess. Es ist ein paradoxer Aspekt von Exzellenz, dass sie nicht mehr, sondern weniger Perfektion erfordert. Exzellente Teams und Organisationen fokussieren gerade NICHT darauf, in jedem Schritt perfekt zu sein und keine Fehler zu machen - sie fokussieren darauf, in wesentlichen Dingen gut zu sein - und parallel permanent zu lernen. Scheitern und Fehler werden nicht vermieden und totgeschwiegen, sondern als willkommene Möglichkeiten zur Reflexion und zur Entwicklung gesehen und dementsprechend ernsthaft reflektiert.
- Feiert, wenn's mal klappt - und zwar nicht erst, wenn es 120%ig klappt. Freue Dich offensichtlich und lobe andere und dich selbst, wenn Ihr es schafft eine schwierige Situation mit guter Verteilung von Verantwortung zu meistern. Und selbst wenn's im Ergebnis nicht geklappt hat - es lohnt sich neben den Verbesserungspotenzialen auch explizit anzusprechen, was schon gut geklappt hat und beibehalten werden soll.
Viel Spaß beim Lernen!